Ankunft vor Aufgabe

Dass die Post früher eher schneller als heute war, kann man an den damaligen Brieflaufzeiten häufiger feststellen. Aber dass ein Brief ankommt, bevor er abgesandt wurde? Den Poststempeln zufolge wurde dieser Trauerbrief in Bremen am 2. Januar 1902 aufgegeben und kam am Zielort St. Petersburg / Russland am 23. Dezember 1901 an - also 10 Tage bevor er abgesandt wurde.

Briefvorderseite mit Aufgabestempel Bremen 2.1.1902
Brief von Bremen nach St. Petersburg/Russland frankiert mit 20 Pf. (MiNr. 57) für einen Auslandsbrief der ersten Gewichtsstufe. Entwertet mit Aufgabestempel Bremen 2.1.02.

Man könnte nun natürlich an eine Fehleinstellung einer der Stempel denken, aber die Lösung ist eine andere: In beiden Ländern, dem Deutschen Reich und dem Russischen Reich, galten unterschiedliche Kalender!
Im Deutschen Reich, wie im ganzen westlichen Europa und vielen anderen Ländern der Welt, galt der Gregorianische Kalender. Im Russischen Reich galt immer noch der Julianische Kalender. Erst ab dem 1. Februar 1918 (14. Februar nach Gregorianischem Kalender) wurde auch hier der Gregorianische Kalender eingeführt.

 Briefrückseite mit Ankunftstempel St. Petersburg 23.12.1901
Briefrückseite mit Ankunftstempel St. Petersburg 23.12.1901

Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Kalendern war die Jahreslänge: Im Julianischen Kalender wurde mit einer Jahreslänge, also der Zeit für einen kompletten Umlauf der Erde um die Sonne, von 365,25 Tagen gerechnet. In dem 1582 von Papst Gregor XIII. eingeführten und nach ihm benannten Gregorianischen Kalender wurde mit einer Jahreslänge von 365,2425 Tagen gerechnet. Auch wenn der Unterschied zunächst nur gering erscheint, über die Jahrhunderte drifteten beide Kalender immer weiter auseinander. Im Jahre 1902, als der Brief versendet wurde, betrug die Differenz schon ganze 13 Tage. Nach dem Julianischen Kalender wurde der Brief also am 19. Dezember 1901 aufgegeben und die Brieflaufzeit betrug vier Tage. Für eine Strecke von immerhin 2.600 km immer noch beeindruckend schnell.

Wieland Peters